Dienstag, 30. Oktober 2018

Aus dem Nichts stehst du vor mir, zwischen vielen anderen. Lächelst, begrüßt mich, deinen Mund nah an meinem Ohr, weil die Musik so laut aus den Boxen dröhnt und die Menge um uns lärmt. "Du siehst noch genauso aus wie früher", sagst du. 47 bist du inzwischen. 26 warst du damals.

Ich habe in den vollgestopften Kisten zwischen all den Notizen, Kladden und Blättern nach den Aufzeichnungen gesucht, die von dir handeln. Sie sind weg. So wie die Zeichnung von dir, du, und um dich rum ein Meer aus Haaren. Wilde lockige Haaren aus Kugelschreiberstrichen. Du zertrittst eine kleine Blume. Aus den dunklen Locken schauen große traurige Augen auf dich, auf mich. Ich blicke auf mich. Zu dem Bild gab es einen Text, und unter dem Bild. Ich malte das Bild damals auf einen Text. Einen Text über Jorunn, die jetzt schläft.

Es war ein grauer kalter Tag im Februar. Wir sind zum Labyrinth gegangen, hoch auf den Turm. Ich fand dich so cool und toll. Deine blonden Haare, deine Katzenaugen. Danach sind wir zu dir. Deine Mama und ihr neuer Mann wohnten in einem Palast auf dem Millionärshügel. Ich kannte das Haus schon, aber das ist eine andere Geschichte die wir teilen. Du hast mich schwer beeindruckt. Dabei warst du so verloren wie ich, aber das konnte ich erst sehr viel später erkennen. Bis dahin schaute ich zu dir auf, egal wie weh es tat.

Wir legten uns in dein Bett, und tranken Wein. Im TV lief MTV, ich erinner mich an das Daft Punk Video, Around the World war gerade der Knaller in den Charts. Irgendwann lag ich auf dem Bauch, und ich weiß nicht was wir spielten, denn eigentlich spielten wir nichts, und doch bekamen wir eine ganz eigene Dynamik, zwischen deinen Satin-Laken. Ich tat als würde ich schlafen, und du wusstest dass ich nur so tat. Ganz langsam fingst du an mich zu streicheln, und Stück für Stück zu entkleiden. Ich genoss jeden Hauch, war wie im Traum, berauscht, aufgeregt und unglaublich verknalllt. „Jetzt schläft die Jorun“, sagtest du, aber natürlich sagtest du nicht Jorun, sondern meinen Namen. In meiner Erinnerung streichelst du mich eine Unendlichkeit lang. So zärtlich, so vorsichtig, so sanft, als wären es keine wirklichen Berührungen, sondern nur der Gedanke daran. Irgendwann fühle ich auf meinem Rücken etwas, wie eine Feder. Später werde ich dich fragen und du wirst sagen, dass es eine deiner kinnlangen Haarsträhnen war. Die Zeit blieb stehen und mein Herz auch. Stunden vergehen, eine weitere Nacht. Hab mich verloren bei dir, in dir. Du wirst mir sehr sehr weh tun, in der Zeit danach, und es vermutlich gar nicht wissen.

Wir laufen uns immer wieder über den Weg. Es tut nicht mehr so weh und irgendwann kann ich dich sehen, sehen wie verloren du bist, und warum. Wir teilten Verluste, schon immer.

„Du riechst noch wie früher“, sage ich zu dir. „Das ist 8x4“ antwortest du, und ich muss lachen, denn 8x4, das hattest du damals nicht. Wir lachen zusammen, du erzählst dass das Parfum irgendwann aus dem Sortiment genommen wurde. Dass du 10 Kilo schwerer und ruhiger geworden bist, mit einem 4-jährigen Kind. Wir schauen uns in die Augen. Deine Katzenaugen. Ich fühle wie mein Herz anfängt schneller zu schlagen. Dann geht jeder seiner Wege.

In den Kisten finde ich unendlich viel Leben. eMails, Karten, Briefe, dicke Tagebücher. Gelebte Liebesgeschichten. Sehr viel Schmerz. Unglaublich viel Freude. Himmelhochjauchzend. Zutodebetrübt. Unruhig. Auf ständiger Abenteuersuche. Naiv. Voller Selbsthass. Ständig verliebt, meistens unglücklich. Voller Sehnsucht. Intensiv. Unfassbar dicht und intensiv. Ich sitze über meinem Leben, das sich bis 26 anfühlt, als wären es 3 gewesen. Das reicht für 10, sagt K. immer.

„Manchmal glaub ich, ich hab einfach schon alles gelebt. Und jetzt ist es leer“, werde ich eben jener K. schreiben, und so klar wie selten zuvor fühlen, dass es das ist, was mich seit Jahren, seit dem Berufseinstieg umtreibt. Dieses Gefühl, dass das eben vorbei ist, Vergangenheit. Auch, weil man so in meinem Alter einfach nicht mehr leben kann. Und die Diskrepanz zum Jetzt ist so riesig, dass ich die Vergangenheit wie ein Echo höre in einer riesengroßen Turnhalle, aus der die Parade mit Feuerwerk längst ausgezogen ist. Petra Pan, der die Mittel der Jungend abhandengekommen sind, weil sie nicht mehr funktionieren, die aber keine neuen Werkzeuge findet. Es fehlt mir, ist aber unwiderruflich vorbei, und ich finde nichts, was diese Leere füllt, egal ob himmelhochjauchzend oder zutodebetrübt. Dafür eine Gewissheit die sagt: das Beste kommt nicht mehr zum Schluss. Das Beste hast du schon gelebt. Ich traue mich kaum es zu schreiben, weil es sich so dramatisch anhört, es für mich aber überhaupt nicht ist: ein Abschied wäre stimmig. Das wars. Kein Akt mehr vorgesehen.

~ Daft Punkt - Around the World






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