Samstag, 23. Juni 2007
Todesängste einer Mutter.
Wenn ich heute vom Verschwinden junger Frauen höre, geht mir das wesentlich näher als noch vor einigen Jahren, und ich kann viel besser als mir lieb ist den Schrecken nachvollziehen, den meine Mutter eines nachts in England durchgestanden hat.

15 Jahre war ich jung. Ferien mit Mama und dem Bruderherz. Die erste Woche verbrachten wir auf Guernsey, die zweite auf Jersey. Die Mama war schon immer eine Frau, dies gern mal krachen lässt, und da sie mit mir eine Tochter hat, die in ihrer Jugend und Kindheit schon immer wesentlich älter geschätzt wurde als sie tatsächlich war, hat sie mich damals auch manchmal zu einer Kneipentour mitgenommen.

So auch an diesem Abend. Mein Bruder musste um 23 Uhr zurück ins Guest House, weil er nicht mit in die Diskothek kam. Das Mindestalter für derartige Lokalitäten ist 21, und wieso ich da mit reinkam, ich glaub, weil man dachte, ich sei zumindest 18, und ja immerhin in Begleitung meiner Mutter.

Schon in der Kneipe davor war mir ein junger Kerl aufgefallen. Ich weiß noch, wie ich kichernd der Mama von seinem Lächeln vorgeschärmt und sie permanent zu ihm habe hinsehen lassen. Goldig fand sie den auch. Aber harmlos ist das damals alles bei ihrer Tochter gewesen. Die Tochter viel zu schüchtern, und ein miserables Selbstbewusstsein. Die schwärmt halt.

Mein Selbstbewusstsein war dermaßen beschissen, dass ich in der Disko nicht mit ihr auf die Tanzfläche bin. Ich war schon immer größer als der Durchschnitt, und gepaart mit einem erbärmlichen Ego ist das nicht unbedingt die beste Voraussetzung für heiße Moves auf der Tanzfläche.

Da saß ich also, nippte an einem.. ich weiß gar nicht mehr, und versuchte, nicht aufzufallen. Das misslang. Der goldige Kerl aus der Kneipe davor kam auf mich zu. Er machte niedliche Komplimente, erzählte mir, dass er Edwin heiße, aus Irland stamme, und auf der Insel in einem Hotel arbeite. 23 sei er, und ich? "I am 18". Mama hatte mir eingebläut, bloss nicht mein wahres Alter zu nennen.

Von der Frau Mama in der tobenden Menge keine Spur, wir knutschten ein bisschen, "Shoot me with your love" von D-Ream drang brutal laut aus den Boxen, und alles war furchtbar aufregend. Denn immerhin hatte ich bis dato nur einen Mann geküsst, und das war eher eklig, wenn auch sehr romantisch an der Engelsbrücke in Rom gewesen. Ich fühlte mich wahnsinnig geschmeichelt.

Ob wir ein bisschen nach draußen wollen, fragte mich Edwin. Ich suchte die Frau Mama, fand sie aber nicht, also willigte ich etwas zögerlich ein, mit dem Hinweis, dass wir aber nicht lange draußen bleiben dürften.

Wir suchten uns einen Hauseingang, dort setzte ich mich auf seine Beine und wir knutschten weiter, bis ein Polizist mit Taschenlampe und dem sehr unverblümten Hinweis: "No sex on the street!!!" auf uns zutrat. Er hat ein bisschen weitergegrummelt, Edwin hat ihn irgendwie beruhigt, meine Hand genommen, und mich zu einer Garage einen Block weiter gelotst. Im nachhinein fällt mir dazu gar nichts mehr ein. Fassungslos macht mich das. Aber von Furcht damals keine Spur.

Wir streichelten uns, wie sich Menschen nun mal streicheln, wenn sie Lust empfinden. Für mich war das alles ein einziger Rausch, in dem ich jegliches Gefühl für Zeit verlor. Irgendwann, ich hatte keine Ahnung, wielang wir weggeblieben waren, kamen wir zur Diskothek zurück. Sie hatte geschlossen.

Das war der Moment, in dem ich hysterisch wurde. Von Mama keine Spur. Wieso hast du mir nicht gesagt, dass Diskotheken hier nur bis 2 Uhr offen haben????, schrie ich Edwin an. Er sah aus wie ein begossener Pudel, hatte ein furchtbar schlechtes gewissen und wollte mich da nicht so stehen lassen. Also nahm er mich mit in sein Hotel. Von dort aus, so meinte er, könne ich das Guest House meiner Mutter anrufen.

Also stieg ich mit ihm, einem seiner Kollegen und einer weiteren Frau in ein klappriges Auto. Wir tranken, und rauchten, und eigentlich wurde alles wieder lustiger.

Edwin hätte niemanden mitbringen dürfen. Der Nachtportier zeigte sich extrem unbegeistert, ließ mich dann aber doch telefonieren. Ich versuchte halbe Ewigkeiten, jemanden zu erreichen, aber keiner nahm das Telefon ab. Woher ich die Muse nahm, eine weitere Zeit mit Edwin seine Dusche und sein Bett zu teilen, ist mir heute ein Rätsel. Damals war ich urplötzlich unsterblich verliebt. Sein Shampoo war Timotei, er roch so köstlich, und erzählte mir wunderschöne Geschichten über Irland. Zum Abschied bat ich ihn um ein Andenken, denn ich hatte ihm erzählt, dass er der erste Mann sei, der mir so nahe war, und dass ich ihm sehr dankbar sei, dass er nicht blöd reagiert hatte, weil ich nicht mit ihm schlafen wollte.

Er wollte mir den Ring schenken, den er von seinem kleinen Bruder bekommen hatte. Das rührte mich zutiefst, aber annehmen wollte ich das nicht, also gab er mir seinen Füller.

Er holte mir ein Taxi, setzte mich rein, bedankte sich für die wunderschöne Nacht und hoffte, dass ich keinen allzu großen Ärger bekommen würde.

Im Morgengrauen kam ich an unserem Guest House an. Bruderherz und ich teilten uns ein Zimmer, und als ich eintrat, saß er senkrecht im Bett und rief nur: da bist du ja endlich! Die Polizei sucht dich!

Was danach kam, lässt sich gar nicht in Worte fassen. Meine Mutter war gleichzeitig stinksauer, voller Zorn, und unendlich erleichtert.

Aus ihrer Sicht lief der Abend nämlich so ab:
sie fand mich nicht mehr, die Disko schloss, von mir keine Spur. Sie ging zum Disko-Besitzer. Nichts. Sie rief im Guest House an. Keiner ging ran. Sie fuhr zum Guest House. Von mir keine Spur. Dann wandten sie sich an die Polizei.

Die klärte meine Mutter darüber auf, dass derzeit auch ein Frauen-Mörder gesucht wurde, und dass sie umgehend die Fahndung einleiten. Die folgenden Stunden müssen für meine Mutter die Hölle gewesen sein. Sie fragten meinen Bruder, ob ich da gewesen sei. Nein. Die Insel stand Kopf. Das Guest House auch.

Bis ich mit einem verklärten Grinsen bei meinem Bruder im Zimmer stand. Der informierte sofort die Polizei, ein Polizist hatte ihm die Nummer hinterlassen, die er sofort wählen sollte, wenn ich auftauche.

An die Reaktion meiner Mutter, als sie mich gesehen hat, kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich hatte furchtbare Schuldgefühle.

Am nächsten Morgen starrte uns der gesamte Frühstücksraum des Guest Houses an. Und meine Mutter? Die zog den Briten eine Fratze...

Nach dem Frühstück musste ich zum Disko-Besitzer und zum Polizisten, und mich entschuldigen. Das war eine unvorstellbare Schmach. Der Disko-Besitzer hat von der Polizei einen derben Einlauf bekommen: "She was 15!!!"... Im Jahr darauf unterzogen sie uns dort einer strengen Ausweis-Kontrolle.

Ich wollte Edwin besuchen, doch er war nicht mehr da. Da mir auch die Hotelleitung keine Auskunft geben konnte, haben wir die Vermutung, dass er gekündigt wurde.

Geblieben ist eine Geschichte, über die inzwischen die ganze Familie herzlich lachen kann. Der Füller von Edwin wurde mir mit einem Rucksack 2 Jahre später gestohlen. Doch der weiße BH, den ich damals in der Nacht trug, hat mich lange begleitet. Bis ein Träger riss. Und nun liegt der BH - immer noch und komplett ergraut - auf unserem Nähkorb, in einem stillen Eck des Wohnzimmers, und erzählt dort stumm die Geschichte von Oka und Edwin.