Montag, 23. November 2015
Stacheldrahtkloß
"Ich muss das endlich klären, sonst ersticke ich bald an meiner Wut!!" Mit viel Puls und lauter Stimme ereifer ich mich.
N. schweigt am anderen Ende der Leitung. Dann sagt sie: "Mich würde ja mal interessieren, woher da deine ganze Wut kommt."
"Naja, von dieser Art und Weise, wie er Schluss gemacht hat. Wie kann er das einfach so machen? Am Telefon, in 10 Minuten? Nach dem Jahr? Und nach all dem, was wir zusammen erlebt haben? Und nach all dem, was er immer gesagt, versprochen hat? Da ist ganz viel verletztes Ego, verletzter Stolz. Enttäuschung. Und eben Wut."

"Versuch sachlich zu bleiben. Er muss nicht mit dir reden. Wenn du ihn so wütend konfrontierst und Vorwürfe machst, wirst du vermutlich nicht weit kommen.. oder ihr schmeisst euch gegenseitig an den Kopf wie scheiße ihr seid."
"Ich habe aber das Gefühl, dass er mich um genau diesen Streit betrogen hat. Mir fehlt so eine Eskalation. So hat er das einfach heimlich still und leise für sich entschieden, mir sozusagen in den Flur gekotzt, und dann ist er gegangen. Und seitdem hat keiner mehr in den Flur geschaut, weil die Kotze echt stinkt."

Natürlich weiß ich, dass N. recht hat. Also schreibe ich ganz höflich eine Nachricht, beziehe mich auf sein Gesprächsangebot von vor zwei Monaten, dass ich so unmittelbar nach dieser ultrabeschissenen Trennungsaktion wirklich nicht annehmen konnte. Vor allem weil ich davon ausgehe, dass er es primär führen wollte, um sein schlechtes Gewissen reinzuwaschen weil er genau weiß dass er seinem eigenen Anspruch nicht gerecht geworden ist. Darauf hatte ich keinen Bock. Und ich wusste auch einfach nicht, was ich reden soll. Weiß es eigentlich bis heute nicht. Er antwortet, dass er sich freut von mir zu hören, und dass er ab 19:30 Uhr erreichbar ist.

Damit habe ich nicht wirklich gerechnet. Mir wird schlecht und panisch packe ich meine Sportsachen obwohl ich längst beschlossen habe nicht in Sport zu gehen, da im Haus Warmwasser und Heizung ausgefallen sind, und ich keine Lust habe danach kalt zu duschen. Aber das ist mir alles egal, wenn ich mich nur irgendwie sinnvoll betätigen kann.

Zu Beginn der Stunde sagt die Trainerin, wir können gerne einen Gedanken fassen, was unser Ziel ist. Ich formuliere einen sehr klaren Satz: ich möchte bitte meine Wut loslassen. Die Stunde ist schweißtreibend. Am Ende liege ich schwer atmend auf dem Boden, ausgepowert, leer.

Auf dem Fahrrad nach Hause fällt mir auf, dass die Wut wirklich weg ist. Und mir fällt auch auf, was da ist. Ein riesen großer Stacheldrahtkloß. Der brennt und beißt, und als ich ihn loslasse sehen die, die mir entgegen kommen, eine weinende Frau auf dem Rad.

Zu Hause dusche ich kalt, fütter die Brüllkatze, wappne mich, atme tief ein... und aus... und ein..

.. und jetzt.. ruf ich da an.

 
Ach Du...!

Stacheldrahtkloß - was für ein Bild hätte es wohl besser treffen können. Ich hoffe, dass N. nicht recht behält und dass, was immer Du gerade mit dem Mann besprichst, erfährst, erlebst, dafür sorgt, dass es Dir besser geht und das garstige Ding sich auflöst.

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@sturmfrau: das gespräch war relativ lang und auch offen. ich hasse ihn dafür, dass es ihm gut geht. ich bin neidisch. ihm geht es gut, er hat neue kraft getankt und viel für sich getan, und ich rühre in meiner scheisse, heule, und fühle mich unglaublich alt und gewrackt.
aber es war gut und richtig anzurufen. es war interessant seine sicht der dinge zu erfahren.

in mir hallt leise die frage nach, ob ich ihn eigentlich mochte. ich weiss, was klingt jetzt komisch. denn ich weiss dass ich sehr verliebt war. kann man verliebt sein, und dann feststellen, dass man den anderen gar nicht mag? obwohl wir uns echt langsam kennengelernt haben, mit sehr sehr vielen gesprächen? ist es das, was immer an dem punkt passiert, wenn sich plötzlich die emotionen verabschieden? wird mir da klar, dass ich den anderen eigentlich gar nicht mag? verliebe ich mich in die vorstellung von einem menschen? oder verstecke ich die gefühle? ich habe geweint und gefragt, wo wir denn falsch abgebogen sind. er sagt, vielleicht hätten wir oft in die Richtung "gemeinsames Leben" abbiegen können, sind aber einfach geradeaus gefahren (und ich weiß es lag nicht an ihm).

die ratlosigkeit über mich selbst bleibt, aber da kann auch er mir nicht weiterhelfen. für alle anderen punkte hoffe ich, dass das gespräch ein bisschen zum auflösen des dings beigetragen hat. toll finde ich, dass er sich bereit erklärt hat für weitere gespräche, wenn ich im lauf der therapie den bedarf habe an manchen stellen nochmal über situationen o.ä. zu sprechen. wir sind im guten auseinander, wie man so schön sagt.

zu der situation kommt mir spontan ein gedicht in den sinn aus dem deutschunterricht, ich glaub wir haben es in der 8 klasse behandelt. Ich selbst fühlte mich jedenfalls in den Wochen oder eigentlich auch schon Monaten vor der Trennung wie in der sachlichen Romanze, sehe mich auf dem campingplatz in südfrankreich sitzen und weinen und er steht dabei, und wir versuchten soviel aber.. tja.. auch wenn ich wie gesagt nicht weiß, woher die plötzliche Sachlichkeit bei mir in den Beziehungen immer wieder nach relativ ähnlich schneller Zeit kommt. Ich traue mir und meinen gefühlen nicht. vielleicht ist allein das auch schon das problem.

Sachliche Romanze
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wussten nicht weiter.
Da weinte sie schliesslich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagt, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend sassen sie immer noch dort.
Sie sassen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

Erich Kästner

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Was mir auffällt: Vor dem Telefonat bist Du wütend auf ihn, die Art der Trennung, nach dem Anruf stellst Du Dich infrage bzw. gehst auf Ursachensuche bei Dir. Vielleicht liest sich das nur hier so. Wäre es so, fände ich das aber sehr schade.

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@mascha: das hast du ganz richtig gelesen. mir wurde das anscheinend auch heute Nacht im Schlaf klar, denn am Morgen war die Wut wieder da, wenn auch bei weitem nicht so massiv.

ich glaube gestern abend war einfach mein akku so dermaßen leer, weil ich nach all diesen wochen endlich das in angriff genommen habe, was da vor sich hingegärt hat.. das war als würde ich komplett in mich zusammenfallen.

im nachgang denk ich mir: ganz schön großkotzig, der typ. ja, er hat sich für die art und weise entschuldigt, und das nehm ich ihm auch ab. ungeschehen machen kann ers nicht. dass ich nicht unerheblich dazu beigetragen habe, dass es ist wie es ist, ist mir auch klar ohne dass er mir das sagen muss. seit ende juni bin ich auf der suche nach meinen gefühlen zu ihm, und tatsächlich fing es schon im märz an, dass ich mich körperlich entzogen habe. aus dem nichts kam die trennung nicht, wenn ich sehr ehrlich zu mir bin. ich bin ja auch primär wegen der beziehung bzw. meinen problemen damit wieder auf therapeutensuche gegangen. nicht erst nach der trennung. erwartet habe ich die trennung allerdings nicht schon zu diesem zeitpunkt und eben in genannter form.
zwischendrin sind aber ein paar sätze gefallen, bei denen ich mir echt dachte: muss er mich jetzt klein und die dinge schlecht reden, damit er da so leicht rausgekommen ist? naja. ist dann auch sein problem. wie gesagt frage ich mich echt: mag ich den überhaupt? ne, ich glaub nicht.

insofern bin ich lieber wieder ein bisschen wütend und such die schuld nicht nur bei mir. nicht leugnen kann ich allerdings, dass sich diese sache immer und immer wieder wiederholt. seit.. ja. seit gut 20 Jahren.

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Es hat ja alles seine Berechtigung, sowohl die Wut als auch das Traurigsein. Und auch das Rauf und Runter zwischen all den Gefühlen. Wenn man so gern möchte, dass es funktioniert, dann tut sowas einfach weh. Ich find's gut, dass Du wütend bist. Wütend sein ist das angemessene Gegengewicht zum Selbstzweifel.

Du wirst eine gute Begleitung für Dich finden, um diese Wiederholungen genau unter die Lupe nehmen zu können, da bin ich sicher. Manchen Dingen kommt man allein nicht oder nicht so leicht auf die Schliche. Erlaube Dir in der Zwischenzeit ein bisschen Raum zum Durchatmen.

Fühl Dich umarmt.

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@sturmfrau: muss ich mir selbst auch immer wieder sagen, dass das alles seine Berechtigung hat. Bin froh, dass ich richtig fühle wie es leichter wird, das Telefonat war wie ein Startschuss fürs Loslassen.

Ich hoffe sehr, dass ich eine gute Begleitung finde. Ein bisschen zöger ich noch. Es muss jemand sein, der mich wirklich entlarven kann, auch in meinen ganz tricky gestellten Fallen, mit denen ich mir selbst immer wieder auf den Leim gehe.

Danke für die Umarmung, ich drücke dich ebenfalls ganz feste!

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Und hinter dem Stacheldrahtkloß? Ich hoffe, da lauert etwas Frieden.

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@pandora: ein hauch vielleicht. ich hoffe es sehr. grundsätzlich fühlt sich der stacheldrahtkloß derzeit sehr fest und hartnäckig an. und ich bin so verspannt und verkrampft und innerlich außer mir und hysterisch und doch so leer. aber doch, ja. es ist immerhin etwas "aufgeräumt" worden, was bisher so im raum stand. weggewischt, eben. :-) die kotze stinkt nicht mehr so krass, aber es bleibt ein schaler nachgeschmack.

frieden. scheint grad so meilenweit entfern von mir. es wäre ein echter segen. wenn ich einen wunsch frei hätte, dann wärs das. frieden. mit mir, mit anderen. mit allem.

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Vielleicht eine eigene Duftmarke setzen gegen den Gestank? Ich kenne das mit dem Sich-In-Frage-Stellen bei jeglicher Holprigkeit auch nur zu gut. Wie Frau Sturmfrau schon sagte: Wut ist ein gutes Gegengewicht, um sich nicht in Selbstzweifeln zu verlieren.

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@pandora: es wird schon leichter. der innere frieden hängt ja tatsächlich weniger an dieser trennung ansich als an der gesamtsituation und was damit für mich einhergeht an ängsten, sorgen, traurigkeit, orientierungslosigkeit.


eine kleine duftmarke konnte ich für mich setzen. es schwindet, langsam. es schwindet.

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*drück Dich*

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Danke Sid! *drück*

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Er war ein guter Wegbegleiter, für eine gewisse Zeit.
Nun trennen sich die Wege, eine neue Begleitung wird kommen, wartet schon irgendwo.
Man darf nicht hadern, sonst verstellt man sich den Blick für alles am Wegesrand.
Und dieser Stacheldrahtklops hindert dich ja richtig, weiter zu gehen. Kick ihn weg, oder steig drüber.

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@croco: das stimmt wohl. ich hab immer schiss, da kommt keine begleitung mehr.

du hast völlig recht, das hadern verstellt wirklichden Blick für alles, und der stacheldrahtklops auch. deswegen war es wichtig dieses aufräumtelefonat zu führen. seitdem ist es mit jedem tag leichter. wenn ich jetzt allen anderen krams der da so rumschwirrt mal außen vorlasse. den wegbegleiter kann ich nun endlich ziehen lassen, auch wenn es sicher noch ein bisschen dauert, bis er ganz weg ist.

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