Samstag, 9. November 2013
"Hier"-
"Mit wem bist du da?" Meine Großcousine schaut mich mit großen runden Augen an. Der Freund einer Cousine steht neben mir und lacht gehässig. "Allein ist sie. Mit niemandem da". Während die Kleine mit ihren 10 Jahren kontert "ja aber du..." (denn der Typ ist heute ohne meine Cousine auf der Familienfeier, so lange kenne wir ihn schon), sitzt sein Satz wie eine Faust in meinem Magen.

Ich gehe alle anwesenden Familienmitglieder und Freunde durch. Keiner über 10 ist hier solo.

Mir ist zum Heulen. Verkrieche mich ins Treppenhaus und tippe das. Fühle mich einsam, wie der letzte Dreck. Nicht wie jemand, der einen andren braucht um sich zu erkennen. Sondern wie eine Wölfin, die seit Jahren allein Reviere durchstreunt, hier und dort schnuppert um freundlich Hallo zu sagen, die kalte Schulter zeigt oder in die Kehle gebissen wird.

Man gewöhnt sich daran. Obwohl man es nicht möchte. Tbc.

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Eigentlich fängt es anders an. Die Kleine fragt: "Woher hast du deine Kette?" "Ach", antworte ich, "von einem alten Ex-Freund." Und ich denke an den Traum von vor ein paar Tagen. In dem ich zum ersten mal seit Jahren eine sehr intensive Begegnung mit eben jenem Mann hatte, meiner großen Liebe, wenn es sowas denn gibt. Der Traum hat mich dazu veranlasst, die Kette von ihrer Patina zu befreien, unter der sie seit Jahren verkümmert. Und man soll doch Silber auf der Haut tragen, damit es wieder glänzt...

Der Großcousin startet einen Rateversuch. "Wie, von einem Ex Ex Ex Ex Ex Ex..." ich weiß nicht, wie viele Ex noch kamen. "Ja, so ungefähr", meine ich. "Ey pass mal auf was du vor der Kleinen sagst". Ich schaue ratlos. "Na von wegen, über deinen Verschleiß hier zu reden." Ich bin sprachlos. Und getroffen. Es folgt obenstehendes Gespräch.

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Wieder im Wohnzimmer. Mir gegenüber sitzt mein Crystal-Cousin mit seiner "neuen" Freundin. Der, der bei der Beerdigung meiner Oma die Bankkarte geklaut und Geld abgehoben hat. Er ist glücklich inzwischen. In seiner Zweisamkeit. Hat seinen Halt gefunden. Kommt klar. Ihm geht es gut. Sogar ihm. Zur Begrüßung drückt er mich sehr lange. Vor meinen Augen blitzt sein nackter Körper an meinem auf, seine Lippen auf meinen. Für den Bruchteil einer Sekunde fühle ich diese verbotene Lust und unseren Rausch von damals.

Mein Onkel, sein Vater, ein ganz cooler Typ, mit dem ich mich prima verstehe, der aber eigentlich nicht viel von mir in der Tiefe weiß, meint: "Hast du schon mal darüber nachgedacht, für eine Zeit ins Kloster zu gehen?" Ich lache bitter. "Ja, öfters." Sehe ich eigentlich so scheiße aus?! "Ja also.. ich meine nur.." er wendet seinen Blick verlegen ab, lässt ihn über den Fußboden schweifen. Das Wohnzimmer ist gestopft voll, die Luft ist stickig. Der Raum fühlt sich kleiner und immer kleiner an. Ich will atmen. Hallo.. hey.. ich will atmen.. bitte gebt mir einen Schluck Bier.. mein Hals... er fährt fort: "das würde dir vielleicht ganz gut tun. Mal runterkommen. Und so." Ich bin sehr irritiert. Wirke ich wie jemand, der mal runterkommen müsste? Ich lebe in der ständigen Unterforderung. Im .. vielleicht auch einfach im falschen Leben. "Weißt du", sage ich, "der A. [mein Bruder] bräuchte das eher, der ist nur am Rotieren. Der hat viel mehr um die Ohren. Und das nächste Problem ist: wenn ich mal dort bin, ich glaub, ich käme nicht zurück." Warum zum Teufel sage ich das alles? Es ist als würde ich an der Decke des Wohnzimmers schweben, oder vielmehr: kleben. "Ja", antwortet er, "das kann ich mir bei dir gut vorstellen."

Diese Antwort überrascht mich mehr als jede andere denkbare. Und ich weiß nicht, was er damit meint. Um uns rum so viele Stimmen. Und meine Brust wird immer enger. Ich muss raus, in die Küche. Da soll es Gulaschsuppe geben.

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Mir fällt ein, wie ich Freunden erzähle, dass ich gerne Drehbücher schreiben würde, nur aus Scheiß, für dieses Kurzfilmfestival, das alle paar Monate stattfindet. Und dass ich dann natürlich auch Schauspieler bräuchte. Wie sie antworten, dass sie das toll fänden und sofort dabei wären, denn ich wäre ja so unglaublich lustig, und dass sie immer soviel zu lachen hätten, wenn sie Zeit mit mir verbringen. Und ich frage mich, bin ich denn die Traurige, oder die Lustige? Oder two in one, sehr intensiv aber irgendwie anscheinend unvereinbar? Und wie ich antworte, dass ich da vermutlich eher Drama kann, depressiv und traurig. Und wie sie sagen: na, auch ok. Und wie schräg ich das alles finde, diese Lustigkeit, und wie mich Leute sehen. Wie ich mich anscheinend gebe. Manchmal. Oder wer was wann wo in wem sieht.

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In der Küche steht Rosi. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich mit mir redet, oder ob sie es jedem anderem auch erzählt hätte. Rosi ist eine Freundin der Tante, die heute ihren 60. feiert. Rosi ist ein bissschen.. vermutlich würden viele sagen, "assozial"... sie verbrachte viel Zeit in Kneipen, mit den falschen Männern, hat kein Gebiss und ein verlebtes Gesicht, aber vermutlich ein Herz aus Gold.

"Wie geht es dir? Also so psychisch auch alles ok? Weißt du... man lebt so. Und bastelt sich so sein Konstrukt. Auch merkwürdige Gedanken und so. Weißt du? Die findet man nicht komisch, bis andere sagen: heeey... jetzt.. pass mal ein bisschen auf, hm? Du wirst irgendwie komisch."

Sie macht mir Angst, ganz plötzlich habe ich Angst und ich will nicht hören was sie weiter sagt weil ich Angst habe dass ich eine Rosi Anfang 30 bin, aber sie redet weiter: "Und man denkt sich: nein. Nein, nicht! Aber... Man ändert es nicht. Man lebt einfach weiter. Und irgendwann gewöhnt man sich daran, weil man es immer so gemacht hat. Man macht einfach weiter. Und manchmal sagt man tatsächlich auch zu manchen: nein. Nicht." Ich schöpfe mir Suppe auf den Teller und trinke dann aus meiner Bierflasche. "Aber trotzdem ändert sich nichts." "Das muss man ändern", sage ich. "Ja", sagt sie, "am besten man fängt heute an. Besser heute als morgen. Einfach nein. Sonst.. ist es einfach so, weil man es immer so gemacht hat."

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Ich esse die Suppe im stickigen Wohnzimmer. Wie fröhlich alle sind. Die Glasglocke vom vorletzten Weihnachten. Da ist sie wieder. Wie eine alte unwillkommene Freindin. "Hot and spicy", antworte ich dem Freund meiner USA-Cousine auf die Frage, wie die Suppe ist. Wir sind eine sehr große Familie. Und es ist das erste mal dass ich mir völlig fehl im Platz vorkomme. Ich gehe aufs Klo, dränge den Kloß im Hals nach unten. Nicht flennen jetzt, du blöde Kuh. Aber den Augen ist es egal. Sie sind knallrot und füllen sich immer wieder mit Wasser. Die Scheißteile. Ich atme wie im Hechelkurs. Es hilft nichts. Ich kann nicht mehr zurück, schleiche mich in das Kinderzimmer zu meinem Mantel und meinen Stiefeln, ziehe mich an, schreibe meinem Bruder, der im Wohnzimmer sitzt, eine SMS, dass ich raus muss und schon Richtung Papa gehe.

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Sterne. So viele Sterne. Es überwemmt meinen Hals, würgt sich hoch auf die Zunge, und bahnt sich als kehliges Schluchzen den Weg in diese eiskalte klare Nacht. Schritt für Schritt. Über Kilometer hinweg. Mein Bruder ruft an. Er hält neben mir. Ich sage, ich will weiterlaufen. Es ist ok. Ich wünschte, jemand würde heimlich aussteigen und hinter mir gehen. Aber wir sind hier schließlich nicht im Film. Die Augen schwellen zu, und die Sterne fragen sich, was wir hier wollen, wir Nichts, und mir fällt ein, dass ich schon mit 16 hinter dem Fernverkehr stand, betrunken von Wodka Lemon, und die Sterne anflehte: holt mich nach Hause!

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Ich bin so müde. Und so verloren. Am liebsten würde ich mich selbst einweisen.

Mich hält hier nichts. Was auch immer "hier" ist.

Seelenheil ~ ... link (11 Kommentare)   ... comment