Samstag, 30. Januar 2010
Weißes Rauschen.
Sie steht gestern im Treppenhaus, als mein Bruder nach Hause kommt. Hält ihm, zwischen Aggression und Auflösung, einen leeren Briefumschlag vors Gesicht, den sie mit Hand beschrieben hat:

Wer steckt dahinter?
a) <Klinik A>
b> <Klinik B>
c) <Klinik C>

Und ruft die ganze Zeit, Wer steckt dahinter?
Er nimmt sie mit hoch zu seiner Wohnung, aber rein geht sie nicht. Welcher Teil ihres Gesprächs vor einigen Tagen, in dem sie sich ihm anvertraute, mitgeschnitten wurde? Oder ob die komplette Unterhaltung aufgezeichnet wurde?
----------------------------------------------------

Nur wenige Stunden davor hatten wir einen Termin beim SPDI vor Ort. Wir schildern unserer Ansprechparterin die Situation, wie sie sich zuspitzt, informieren uns über unsere (so gut wie nicht vorhandenen) Handlungsmöglichkeiten, über den Verein für Angehörige Psychisch Kranker, über Betreuungsverfahren, über Zwangseinweisung. Immerhin haben wir, v.a. mein Bruder, nun eine informierte Stelle vor Ort, die für uns da ist.

Sie empfiehlt uns, mit dem Hausarzt zu sprechen, sofern sie dort noch ab und zu in Behandlung ist. Wir bekommen sofort einen Termin.

Dieses Gespräch dürfte ich nun nicht ausführlich schildern. Ich vermute, er verletzt seine Schweigepflicht und mit den Vorschlägen, die er hat, wagt er sich an den Rand eines Zulassungsentzugs. Ihm ist die Situation bekannt, sie kommt ab und zu zu ihm. Aus ihm spricht die gleiche Verzweiflung wie aus uns, ebenso die Ohnmacht, gebundene Hände, solange Fremd- oder Selbstgefährdung fehlen, und zugleich dieser große Wunsch, endlich handeln zu können. Wir tauschen Telefonnummern aus.

Ein weiterer Verbündeter, Mitwisser. Ansprechpartner im Notfall. Was ist ein Notfall?
Alle sind sich einig: ohne Medikamente wird das nichts.
----------------------------------------------------

Vorhin. Es klingelt Sturm bei meinem Vater. Er ist nicht da, ich schlafe. Mein Handy klingelt. Meine Mutter. Ich habe Angst. Ja! Ich habe Angst, wenn meine Mutter oder das, was sie gerade ist, klingelt. Beschämend, nicht wahr. Ich torkel schlaftrunken zur Tür, während der Puls bereits jenseits von gut und böse ist.

Kein Hallo, kein nichts. Wir hatten seit 3 Wochen keinen Kontakt, seit sie einfach aufgelegt hat. Hast du deinen Laptop dabei, fragt sie. Ihr Tonfall ist fordernd, aggressiv. Ich bejahe. Mach ihn sofort an, ich brauch ein paar Telefonnummern. Nein, sage ich, so geht das nicht, was ist denn los? Das Gespräch dreht sich im Kreis und endet damit, dass sie meint:
wie zu erwarten, auf euch ist nicht Verlass.

Du machst mir Angst, sage ich. Angst, schnaubt sie, ja, das kann sie sich vorstellen. Was ist los? Frage ich zum hundertsten mal. Und: soll ich einen Arzt rufen? Da wird sie wirklich aggressiv: Ich kann dir gleich eine scheuern! Das einzige, was mich das letzte halbe Jahr hat durchstehen lassen, war der Glaube an euch beide [mich und mein Bruder]. Lasst euch beide nie, nie mehr bei mir blicken!

Sprichts, und knallt die Tür hinter sich zu.
----------------------------------------------------

Vor dem Fenster versinkt die Welt immer tiefer in Schnee. In mir auch. Alles ist taub und stumm und weißes Rauschen. Was, wenn sie sich nun doch etwas tut, und wir haben nicht gehandelt.

Ich kann den Schmerz, die Ohnmacht und auch die Wut, nicht beschreiben, die Gefühle, die man in solchen Situationen empfindet. Doch vor allem dieses weiße Rauschen: wo läuft das hin? Angst. Es ist die Angst. In mir steckt inzwischen eine permanente Grundangst vor meiner Mutter. Und dem, was sie tut. Und dem, was sie tun könnte.