Eine Familie, die so anders ist - da hatten wir auch Glück, wirklich, eine Kindheit die so anders war.
Und eine Tochterfigur, die ein gnadenloser Spiegel zu sein scheint. Es ist ein großes Plus des Films, dass diese Vieelfalt an Emotionen und Gedanken, die diese Tochter mit sich trägt, so gut wie nie explizit angesprochen werden. Denn sie sind unaussprechlich. Ein Film würde jämmerlich ertrinken in dem Versuch es zu verbalisieren, es laut werden zu lassen. Und so kann ich es nun bis aufs Sofa nachfühlen. Die ganze Komplexität. Ohnmacht, Hass, Scham, Ekel, Verzweiflung, schwindende Kraft, Liebe..
Bisher hat kein anderer Film, den ich zu dieser Thematik gesehen habe, die Perspektive einer Angehörigen so stark und authentisch rübergebracht.
Ich schreibe hier nicht mehr oft über meine Mutter. Vielleicht auch deswegen. Es ist einfach zu komplex als dass ich es mit meinen Worten erfassen könnte. Und ich ziehe meinen Hut vor denjenigen, denen es gelungen ist diese Geschichte so zu transportieren, wie sie es eben getan haben.
The guilt, the pain, the hurt, the shame
The founding fathers of our plane
That's stuck in heavy clouds of rain."
~ Wankelmut - One day
Das Bett hält mich bis 11 Uhr fest, obwohl ich mir auf 8 den Wecker gestellt habe. Eigentlich will ich in die Heimat, Mama besuchen. Aber es fällt mir schwer, immer wieder. Das Telefon klingelt, es ist mein Bruder. Er meint, ich soll doch mit Mama zu ihm und seiner Freundin kommen, wir können auf der Terrasse sitzen und Kuchen essen, bei dem tollen Wetter. Dann kommt Mama auch mal wieder raus. Mama ist nicht überschwenglich begeistert, sie sagt, heute ist es wieder ganz schlimm, aber sie freut sich dass ich komme und sie mich endlich wieder sieht. Mich selbst versieht der Vorschlag meines Bruders mit einer ordentlichen Portion Motivation und gute Laune. Also ab auf die Autobahn.
Bei ihr tolle ich mit den Katzen im Garten, während sie sich zitternd und zuckend fertig macht für unsere kleine Exkursion. Aus dem Tiefkühlfach holt sie Streuselkuchen mit Pflaumen, den hat ihr mal die Nachbarin gebacken.
Mein Bruder ist neulich mit seiner Freundin zusammengezogen, gemeinsam in eine neue Wohnung. Die Wohnung ist wunderschön, lichtdurchflutet und mit toll geschnittenen Räumen. Am meisten mag ich das helle Wohnzimmer, das direkt auf die Terrasse und zum kleinen Garten führt. Die Katze meines Bruders wirbelt um uns rum, der kleine Stinker. Ich bin so froh meinen Bruder zu sehen, und seine Freundin V. Bei den beiden fühle ich mich immer wohl.
Mein Bruder buddelt im Garten, V. kocht Kaffe und steckt den Kuchen in den Backofen. Mama sucht einen Schattenplatz und raucht. Ab und zu legt sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer. "Das entschärft die Situation", sagt sie. Von Momenten wie diesem Nachmittag und speziellen Szenen macht mein Gehirn Schnappschüsse, völlig unbewusst, aber sie sind da und brennen sich in die Hirnhaut. Wir alle nehmen Abschied, die ganze Zeit, und das ganz automatisch, schon seit Monaten, wenn nicht Jahren, und wer weiß, für wie lange noch. Manchmal bin ich froh, dass ich diese Möglichkeit überhaupt habe, so quälend sie manchmal (nein - meistens) ist.
Auf dem Rückweg möchte Mama einen Zwischenstop beim Dis*counter machen. Ich muss auch noch Futter besorgen. Während wir uns einen Wagen holen, entdecke ich meine Tante H. väterlicherseits. Als ich auf sie zugehe merke ich, dass ihre Augen sehr verweint sind. "Wie geht es Oma?", frage ich besorgt. "Da komme ich gerade her. Ich hab die ganze Strecke hier her geweint". Meine Oma ist gerade auf Reha. Sie hatte aus dem nichts mehrere Schlaganfällge, war drei Wochen im Krankenhaus und ist nun in der 3. Reha-Woche. Papa klang das letzte mal optimistisch.
Doch als ich nun H. vor mir sehe, wird mir klar, dass der Optimismus schwindet. "Sie lag im Bett, ein Bein draußen, die Windel auf dem Fußboden. Sie war von oben bis unten mit Kot vollgeschmiert." Ich bin entsetzt. "Als die Schwestern und ich uns gefragt haben, warum denn ihre Unterlippe so dick ist, haben wir festgestellt, dass da auch Kot drin war, innen, unter der Unterlippe." In ihren Augen sammeln sich Tränen. Mama kann nicht mehr stehen, und geht schon mal in den Dis*counter. "Was ist eigentlich mit deiner Mutter?", fragt H. In der Familie wissen alle, dass es ihr schlecht geht, aber keiner weiß die Diagnose. Jetzt schon. Nun ist es an H. entsetzt zu sein.
Wir reden weiter, über unsere Mütter, über Mama und Oma, dabei geht H. langsam Richtung Eingang. Irgendwann stehen wir vor den Backwaren. "Ich weiß gar nicht, was ich hier gerade soll", sagt sie, "Mir ist gerade alles so egal." Wie auf Automatik steuert sie eine Packung Buttercroissants an und schmeißt sie in den Wagen. "Geh zu deiner Mutter", sagt sie. Ich umarme sie fest.
Auf der Autobahn. Ich fahre nach Hause. Höre Kla*ngkarr*ussel und Hel*denklang, Musik, die ich zur Zeit sehr mag. Ich liebe es im Sonnenuntergang durch das Frankenland zu fahren. Es ist zauberhaft. Die sanften Hügel, im Hintergrund einige Bergchen. Grüne Wiesen, Bäume mit grünen Blätterknospen, dazwischen immer wieder Nadelwälder. Die Sonne küsst diese Landschaft und taucht sie in ein bleiches Gold.
Zu Hause rufe ich Mama an und sage ihr, dass ich gut angekommen bin. Sie erzählt mir etwas über eine Ste*rbehilf*eorganisation in der Schweiz, das mich sprachlos und rasend vor Wut macht. Das passt nicht hier her, vielleicht passt es morgen, oder übermorgen, oder überübermorgen..
Mama hat mir heute nachträglich zum Geburtstag eine Uhr geschenkt. Und den signierten Korb. "Für Oka. Alles alles Liebe, Glück, Gesundheit, Freude, Freunde, Zufriedenheit. Deine Mama".
"Mama", sage ich, "mit jedem Satz beweist du mir, dass du krank bist."
Zu diesem Zeitpunkt haben wir bereits eine Stunde Gespräch hinter uns. Ein Gespräch das freundlich beginnt, in dem man sich erzählt und auch lacht, bis sie zwangsläufig das Gespräch auf IHR THEMA lenkt. Und von da an geht es jedes verdammte mal steil bergab.
Es bahnt sich immer noch einigermaßen harmlos an. Sie erzählt, dass sie jetzt diese Tabletten nimmt (Ab*ilify). Angeblich. Aber ich kommentiere es nur wohlwollend, hinterfrage es nicht. Sie merkt noch nichts, behauptet sie. Das dauert sehr lange, lass dem Körper doch Zeit, meine ich. Und dann versucht sie wieder und wieder mich zu überzeugen. Von ihrer Wahrheit. Von der "Folter", und dass sie Fo*rschun*gsobjekt sei. Von DENEN. Und ALLEM.
Ich versuche dann immer noch, die Eskalation abzuwenden, indem ich sage: "Mama, hör doch endlich auf mich von irgendwas zu überzeugen. Hör auf mit mir darüber zu diskutieren. Wir haben unterschiedliche Standpunkte, und wissen das. Und wissen auch, dass wir uns nur streiten, wenn wir uns auf die Diskussion einlassen. Also lass es doch bitte einfach. Ich will nicht mit dir streiten." Aber sie hört nicht auf. Nie. Manchmal tut sie so als ob, eingeleitet durch ein "also gut.. ich ... blabla... aber... " und an diesem Punkt fängt die Diskussion wieder an.
Und jedes mal endet sie damit, dass einer von uns beiden auflegt. Heute war ich es. Denn dann kam der Gehir*nwäsche-Spruch. Und ich glaube, dass sie danach in der Zeit, in der ich ihr versuchte zu erklären, dass wir nicht die Arschlochkinder sind, für die sie uns hält, dass uns das nicht alles am Arsch vorbei geht. Dass wir uns letztendlich für den Rest unseres Lebens fragen müssen, "warum haben wir nicht mehr gemacht?", wenn sie sich umbringt oder umbringen lässt. Dass wir leiden wie die Säue, seit über 2 Jahren, weil es uns weh tut sie so zu sehen, und weil wir sie nicht verlieren wollen. Und so weiter. Ich glaube, dass sie in all dieser Zeit den Hörer einfach vom Ohr weggehalten hat. So, wie Kinder es oft bei ihren Eltern tun.
Also sage ich: "Du kannst jetzt den Hörer wieder ans Ohr nehmen". Aber es kommt nichts. Ich sage es noch mal. Nur rauschen am anderen Ende, aber sie ist definitiv noch dran. Ich lege auf, und weine.
Ich weine inzwischen sehr sehr selten über sie und uns und dieses Thema. Weil ich wenig Zeit habe, und weil ich Angst davor habe, und weil ich jetzt gelernt habe, dass all die Wut die ich ich habe, und all der Hass und Groll und Unmut und Ärger, nichts ist als grenzenlose Verzweiflung und Traurigkeit. Würde ich das aber alles als Trauer ausleben, ich würde verrückt dabei. Und Zigaretten vermissen.
Und ich denke an diesen Film, von dem ich neulich schrieb, und daran, dass man mit verrückt wird, und ich glaube das ist es, was einen auch daran hindert, die ganze Sache nach außen zu geben. Weil man so sehr mitten drin ist. Und die andere Seite ist: will man ihr die Alternative (Zwangsmaßnahmen am Fließband für voraussichtlich den Rest ihres Lebens, denn ich glaube nicht mehr an Einsicht und Linderung) wirklich zumuten?
Ganz tief in mir habe ich ein grauenhaftes Wissen. Dass es entweder ein eigenhändiger, gewalttätiger Suizid sein wird, den wir verarbeiten müssen, oder einer, den wir begleiten. Andere Optionen kommen in meinen Gedanken an die Zukunft nicht vor.
Es ist schrecklich. Das alles ist schrecklich. Es lähmt und schmerzt und schreit. Und ich kann keinem erklären, wie schrecklich es ist. Außer meinem Bruder. Und der geht gerade nicht ans Telefon. Also betrinke ich mich.
Janos M. Bak, Vater:
„Aber schon damals ist es mir aufgekommen, ob man irgendwo etwas als Vater, als Erwachsener, als Freund, als zur Gesellschaft, zu deinem Milieu Gehörender, falsch gemacht hat. Hat man einen Fehler begangen? […] Hätte man sie anders […] unterrichten, handhaben, erziehen, beraten […] können, sollen, müssen, so dass dies nicht passiert. […] Ich glaube das war sehr lange das erste und das wichtigste wo man sich das natürlich auf sich selbst zurück reflektiert.“
Dieter Vervuurt, Ex-Partner:
„In der Zeit […] hab ich gemerkt dass ich bestimmte Phasen […] Schritt um Schritt um Schritt […] in die Krisen mitgemacht hab, also meine Maßstäbe haben sich verschoben, ich fand […] Situationen waren normal […] oder wurden normal, die ich eigentlich nicht als normal empfunden hatte, aber ich fand meine Maßstäbe verändert bis man plötzlich […] unglaublich weit exponiert feststellte wie weit man schon gegangen ist. Jemand der geht und geht und plötzlich merkt er, er steht an nem Abgrund. Er steht an nem Abgrund und hat es gar nicht gemerkt, sondern er ist gegangen. Aber der Abgrund ist da. Und die Krise war da. Und man ist ein Stück mit in die Krise gegangen und […] musste denn… Das hat vieles in Frage gestellt. […] Das hat die Idee von Normalität in Frage gestellt, es hat aber auch […] die Maßstäbe in Frage gestellt mit denen man eigentlich auf Menschen kuckt.“
„Bei psychischen Erkrankungen gibt’s immer das Moment dass man eigentlich das Gefühl hat, dass man jemandem helfen können müsste, […] nicht weil man ein Fachmann ist, sondern weil letztlich ja in den Bereichen findet das statt was zwischen Menschen immer stattfindet, Diskurs, Gespräch, Beratung. Und anders als bei der körperlichen Erkrankung, in das ja das Fachwissen der Chirurgen und der Ärzte und der Medikamente einwirkt, hat man eigentlich, hatte ich das Gefühl dass man jemandem helfen können müsste. Kann man aber nicht. Das ist das Problem. Weil man dadurch dass man involviert ist, ist man wahrscheinlich der Falscheste überhaupt, weil man hat keine Distanz, hat einen Teil des Weges mitgemacht, ist sozusagen ein kleines Stück mit wahnsinnig geworden, hat seine Perspektiven verschoben, hat Maßstäbe aufgegeben, und dann aus dieser ganzen Verwirrtheit will man dann noch jemandem helfen indem man mit ihm redet? Das ist eigentlich ein Quatsch. Das heißt, wie bei jeder anderen Erkrankung muss man das eigentlich nach außen geben und nicht sich zum kleinen Bastelhandwerker der […] Therapie machen. Das ist aber ein langer Weg, bis man das begreift, dass man eigentlich gar nichts machen kann, dass man komplett… hilflos ist, und am besten auch die Finger davon lässt… und nicht bastelt.“
Gamma Bak:
“[…] Eigentlich war die Arbeit bei ihm […] ein Teil aus der Krankheit auch wieder herauszukommen und zwar indem ich einen regelmäßigen Tagesablauf habe und jetzt… […] bin ich eben arbeitslos und… mmm… ich mach mir schon ziemliche Sorgen weil ich denke dass … also Existenzängste sind so… […] für mich könnte das auch bedeuten dass ich nochmal in ne Krise rutsche […]"
„Also ich find die Wirkung von den starken Neu*role*ptika ist eigentlich so, wie man sich manipulierte menschliche Zustände in Science-Fiction-Romanen vorstellt. […] Es ist ne Welt (lange Pause) … also das Leben mit den Medikamenten ist ne Welt in der …. Fast alle Gefühle abgeschnitten sind. Ich… ich spüre fast nichts mehr. Und ne Sensibilität zu haben dafür, was wirklich wichtig ist und was wesentlich ist oder was gefühle sind ohne gefühle zu fühlen, geht fast nicht, […] es ist ja keine intellektuelle Sache, Gefühle […]"
Jackie Crossland, beste Freundin der Stiefmutter:
“What are side effects? There are no side effects. Everything that happens to you because that’s induced by the medication is an effect of the medication. And we talk about side effects as if they were meaningless or […] irrelevant issues […]. I think I understand [...] the difficulty of trying to work your way through that and the difficulty of finding people who will deal with you in a straight forward manner that will give you information that you need or that can help you make a good decision. “
Dieter Vervuurt, Ex-Partner:
„Du kommst in die Abteilung, die objektiv genauso aussieht (Anmerkung: wie die offene Statio), aber die Türen sind zu. Die äußere Tür die man normalerweise aufmacht mit so nem Knopf und die aufschwingt, ist geschlossen. Das heißt, der Knopf der die Tür öffnet ist eigentlich ne Klingel und irgendwann kommt ne Pflegerin und schließt die Tür auf und nachher schließt sie die Tür auch wieder ab und die Tür fällt ins Schloss wenn man da rausgeht und …. Die Abteilung ist hermetisch geschlossen. 3 Scheiben Glas, du siehst noch den Gang, aber … die Tür ist zu. Für dich nicht als Besucher, weil du kannst ja rausgehen, aber Gamma steht hinter der Tür und ist eingeschlossen […].“
Gamma (über Stigmatisierung nach der Diagnose):
„[…] Ab da, für den Rest des Lebens. Vorher durfte ich ja verrückt sein und durchgeknallt wieviel ich wollte, so wie jeder andere auch, aber jetzt darf ich ja nix mehr außer Reihe. Ist ja alles nur ein Zeichen ‚oh.. kann sein dass es dir schlecht geht'.“
Sie tragen eine kuriose Konstruktion aus dunkelblauem Metall nach außen. Es sieht aus wie ein Sarg, nur ist der Deckel dreieckig, wie ein Hausdach. An den Seiten sind Cent-große Löcher, damit Luft reinkommt. Als sie den Deckel heben, liegt meine Mutter darin. Sie sieht furchtbar aus. Im Gesicht Ekzeme, ein Ausschlag. Die Lippen ganz aufgesprungen.
Sie, die sie tragen, sehen aus wie Feuerwehrleute, in Schutzanzügen. Sie packen große Schläuche aus und besprühen meine Mutter wie von Sinnen mit Borreliosemittel. "Hört auf", schreie ich, "ihr bringt sie doch um! Mama, das bringt dich um!" Aber es ist ihr egal, und den anderen auch. Mama schaut ganz verwirrt, entrückt, und murmelt, dass das notwendig sei.
Sie lebt in dem Metallkasten. Jeden Tag.
[Aufgewacht, 2.31 Uhr]
Wir waren in dieser Kirche, die aussah, wie eine Bilderbuchkirche in einem Bilderbuchbayern. Klein, ländlich, sehr hübsch mit wunderschönen Gemälden, einer fantastischen Orgel, einem goldenen Kronleuchter und einem weißen Herrnhuter Stern. Diese für uns neue Kirche in einem für uns neuen Dorf, das erste Weihnachten seit 20 Jahren nicht in der altbekannten Wohnung, nicht in der altbekannten Gemeinde, weil meine Mutter vor knapp einem Jahr umgezogen ist. Ich versuche alles nicht an mich ranzulassen, während Mama bei "Stille Nacht, Heilige Nacht" und "Oh du Fröhliche" weint.
Danach wird es ein bisschen entspannter, nachdem sie in der Küche wieder weint und meint: lass uns einfach einen schönen Abend haben.
Und dieser Abend, für mich ist er nichts anderes als ein Abschied. Ich mag gar nicht so sehr ins Detail gehen, weil ich nicht will, dass ich am Ende hier wirklich das letzte Weihnachten mit meiner Mama beschreibe. Andererseits will ich es nichts lieber als irgend etwas anderes festhalten.
Ich erkläre ihr irgendwann, wie es mir geht, vor allem mit der Arbeit, und wie meine Psyche kaputtis ist, und frage sie, ob sie sich daran erinnert, wie sie damals, als ich das erste mal in meinem Leben eine Depression hatte, zu mir sagte: "Es reicht jetzt. Du versprichst mir jetzt, dass du morgen zum Psychiater gehst, dir Antidepressiva verschreiben lässt und eine Therapeutin suchst." Und dass es das Richtigste überhaupt war, was sie sagen konnte. Nein, sagt sie, daran erinnert sie sich nicht, dass sie aber schon immer aufgeschlossen war gegenüber therapeutischer Hilfe.
Stumm schüttel ich schon da den Kopf, also nur so leise in mir drin. Und sie weint und sagt, sie hatte ja keine Ahnung, wie schlimm es ist, und ich versuche ihr zu erklären, dass es jetzt nicht optimal, aber kein Weltuntergang ist, dass der Vorteil nun ja ist, dass ich einigermaßen weiß wie ich damit umgehen soll, und ich weiß, dass ich Hilfe brauche, und dass ich diese Hilfe bereits suche. Und sie weint: "Und dann komm ich da mit meiner Scheiße noch dazu." Ich sage: alles im grünen Bereich. Ja, es belastet mich, aber das ist halt so, und immerhin sei ja noch alles ok, in der Arbeit merke keiner was, und meine Wohnung sieht auch top aus. "Ja, meine auch noch. Noch." Sagt sie. Und ich bin hellhörig, und sie weint weiter, aber egal wieviel ich frage, sie hört an dieser Stelle auf, etwas dazu zu sagen. Ich fühle mich schuldig, sage: scheiße, ich hätte dir das nicht erzählen sollen! Und sie sagt: doch! Und jetzt frage ich mich, ob sie glaubt, sie würde eine Ballast von mir nehmen, wenn sie weg ist. Wieviel größer ist für mich die Ballast eines Suizids, frage ich mich. Und sie nimmt mir das Versprechen ab, dass ich mein Leben änder. Dass ich mir ein Leben suche, in dem ich keinen verspannten Kiefer habe. Ein Leben, in dem ich mich richtig fühle.
Wir sehen viele leere Pfandbierflaschen. Und viel Nachschub im Autokofferraum. Sehen einen Menschen, der ein schönes letztes Weihnachten mit seinen Kindern haben will. Dass es das letzte sein soll, erfahre ich erst von meinem Bruder auf der Rückfahrt. Denn während ich mich anziehe für die Rückfahrt, spricht sie leise mit meinem Bruder, eindringlich, und sie weint, und ich kenne diesen Blick, und ich verstehe nicht um was es geht, ahne es aber, bis er es mir sagt. Bis dahin war der Abend wunderschön. Sie zieht es durch, glaube ich, das rationalisierte Verabschieden vom Leben. In ebenjener bereits beschriebener Wohnung mit beschriebener Deko und beschriebendem Duft und mit der bayerischen Weihnacht auf Ant*enne Ba*yern. Und mit den zwei zuckersüßen Katzen. Und dieser Mama. Dieser meiner Mama. Sie erzählt so witzige Anekdoten aus unseren Leben, aus unserem gemeinsamen Leben. Von meinem Bruder, von mir. Erzählt gestenreich, nein sie spielt es uns vor, uns stehen teilweise die Tränen vor Lachen in den Augen, und fragen uns danach: "Wie kann das sein?? Da scheint es ihr doch so gut zu gehen, in solchen Momenten?"
"Es wird kein nächstes Jahr geben", meint sie zu meinem Bruder. Kein nächstes Weihnachten. Denn sei es nicht besser auch Tiere einzuschläfern, die leiden, wenn es keine Chance auf Heilung gibt. Mein Bruder vereinbarte mit ihr, dass wir zu dritt darüber reden, am 2. Weihnachtsfeiertag.
Aber das ist schwer erklärbar. Wie sehr man so etwas spürt, als Kind. Und wie man sieht, dass sie das auf rationaler Ebene seit Wochen vorbereitet.
Du weißt, sage ich meinem Bruder später, dass das bedeutet, dass wir spätestens bei diesem Gespräch die Polizei und den Notarzt rufen müssen. Und ja, er weiß es, und allein die Vorstellung ist abartig. Und wir fragen uns, ob es nicht wirklich besser ist, einen Menschen von seinem Leiden zu erlösen, anstatt ihn für den Rest seines Lebens zu psychiatrischer und medikamentöser Behandlung zu zwingen, denn wollen wird er es nicht. Wogegen die winzige Hoffnung steht, dass das wiederum die einzige minimale Chance ist, dass sich doch noch etwas ändert. Aber diese Chance ist wie gesagt minimal. Und für mich persönlich läge aus ihrer Sicht der Suizid bei einem aufgezwungenen Leben in der Psychiatrie vermutlich genauso nahe. "Wie mans macht macht mans falsch."
Wir, also mein Bruder und ich, trinken bei meinem Bruder zu Hause Sekt, spielen mit seiner Katze, reden über Mama, und dann viel über Arbeit. Und hören Musik, wie dieses eine. Bis spät in die Nacht. Und fragen uns, ob wir doch bei ihr hätten übernachten sollen.
Es war ein sehr tränenreiches Weihnachten, für uns alle. Mein schönstes Geschenk ist ein Brotkorb. Sie überreicht ihn mir uneingepackt. Er hat eine Herzform und einen roten Boden. Das Holz ist hell. "Den habe ich damals geflochten. Bei meinem ersten Aufenthalt in der Psychia*trie. Ich wollte ihn dir schon die ganze Zeit schenken, und eigentlich noch eine persönliche Widmung hinten draufschreiben. Das hat mir Spaß gemacht, das Korbflechten." Die Widmung holt sie nach. Der Korb ist das furchtbar traurigste schönste Weihnachtsgeschenk, das sie mir jemals gemacht hat.
Als ich nun hier bei meinem Vater die Tür aufsperre, frage ich mich, ob das wirklich das letzte Weihnachten mit meiner Mama war.
Bin sehr gespannt, was Leute schreiben. Vielleicht geht ja irgendwas vorwärts. Bin dem Menschen, der mich dadrauf gebracht hat, sehr dankbar. Ich hatte ihn über Go*ogle und irgendwelche Beiträge in anderen Foren gefunden, als Betroffener, der inzwischen zur Krankheitseinsicht kam, und den hab ich dann einfach mal angeschrieben.
Phu. So. Ja. Dem A*p*K hier hab ich ja auch nochmal geschrieben. Aber deren Antwort finde ich dermaßen bescheuert, dass ich eigentlich sprachlos bin:
es tut mir leid Ihnen keine befriedigende Antwort geben zu können. Ihre Mutter braucht sicherlich die medizinische Hilfe eines Facharztes, wie Neurologe oder Psychiater. Wahrscheinlich wäre auch ein Klinikaufenthalt (Psychiatrie) angebracht.
BIG SURPRISE.
Allerdings können Sie gegen den Willen Ihrer Mutter keine Maßnahmen ergreifen, die sie ablehnt, außer bei Eigengefährdung oder Fremdgefährdung.
EVEN BIGGER SURPRISE.
Falls Ihre Mutter in (XY) lebt könnten Sie mit dem ApK-(XY) Kontakt
aufnehmen:
kontakt@*****
Auch bei folgenden Adressen können Sie sich Rat holen:
Soz*ialpsychi*atrische Die*nste:
(Beratung und Begleitung von Menschen mit psychischen Problemen und in
seelischen Krisen)
St*adtmissi*on,
Arb*eiterwoh*lfahrt,
Car*itas,
Ihnen und Ihrer Familie wünsche ich alles Gute!
Mit freundlichen Grüßen
Die Adressen und zu den Einrichtungen habe ich jetzt rausgelöscht für hier.
Ich mein: WHAT THE FUCK DOES THE A*P*K* DO????????? Der Verein für Ang*ehörige ps*ychisch Kran*ker????????????
Sorry. Mir hauts da nur noch die Fragezeichen raus.
Nein. Nein, und jedes mal, wenn ich bei ihr bin, vor allem heute, passt das, was ich sehe, mit dem was ich weiß, absolut nicht zu einander. Es steht in so einer krassen Diskrepanz, dass mein Gehirn das nicht packt. Ich werde nun etwas schildern, was für mich unendlich intim ist, und vielleicht stelle ich es noch offline. Aber schreiben muss ich es auf jeden Fall, ich muss festhalten, dass es auch diese Mama noch gibt, irgendwo, irgendwie, und sei es nur für uns.
Sie wusste nicht, dass ich mitkomme, sie dachte, nur mein Bruder und seine Freundin kommen sie besuchen, nachträglich Geburtstag feiern. Wir hatten ihr ihr Parfum besorgt, das hat sie sich gewünscht, eins von Di*or. Sie hat lange nach einem neuen Parfum suchen müssen, nachdem ihr altes von Ve*rsace schon seit Jahren nicht mehr verkauft wird. Jetzt hat sie seit einiger Zeit Di*or. Mama wird für mich aber immer Versa*ce sein, und es macht mich sehr traurig, dass ich das nie werde riechen können, wenn ich sie selbst nicht mehr riechen kann.
Als sie mich hinter meinem Bruder und seiner Freundin entdeckt, mit Blumen und Geschenktüte in meinen Händen, öffnet sich ihr Gesicht und wird erleuchtet von einem wunderschönen Strahlen. "Dass du da bist!" Das ist das schönste Geschenk, sagt sie, nimmt mich in den Arm, küsst mich. Ihre Haut ist immer noch so weich wie ein Babypopo und hat kaum Falten. Und das bei einer Kettenraucherin. Und sie duftet, nach Niv*ea-Creme. Und nach Mama. Ihre Haare sind am Ansatz etwas grau, aber ansonsten tönt sie wohl immer noch in einem hellen braun. Sie sagt es immer wieder: "ich freue mich so wahnsinnig, dass du da bist! Hab mich ja schon gefreut, dass dein Bruder und V. kommen, und jetzt das! So eine schöne Überraschung!" Sie ist richtig aus dem Häuschen. Sie freut sich nicht oft, wie Sie sich denken können. Umso mehr treibt es einem die Tränen in die Augen.
Wir betreten die Wohnung. Es riecht, wie es seit vielen Jahren bei uns zu Hause in der Vorweihnachtszeit riecht. Nach einem Duftöl, Mama-Weihnachts-Duftöl in der blauen Keramikduftlampe. Schön warm ist es, und aufgeräumt, der Boden sauber, alles ordentlich. Im Wohnzimmer hat sie den Tisch schön gedeckt, mit dem Geschirr für besondere Anlässe, ein weißes mit schlichtem schmalem blauem Streifen am Rand, und schönen Blumenservietten. Wir haben Pizza mitgebracht.
Nur viele Kerzen auf dem Esstisch erhellen den Raum, und ein Adventskranz mit roten Kerzen, von denen zwei brennen. Auf einer kleinen Anrichte steht ein selbstgebasteltes Gesteck einer Nachbarin mit kleinen Teelichtern. Es hängen selbstgebastelte Weihnachtssterne in blau und gold an einem Bücherregal. Auf dem Fensterbrett steht die rote Lichterpyramide. Die Stimmung ist so heimelig und so unglaublich vertraut, dass ich meine innerlich zu zerreissen.
Mein Bruder ist ein kleiner Kobold, und wir haben ein so lustiges Essen wir schon lange nicht mehr. Reden über alles - nur nicht über ihre Beschwerden. Und es scheint auch, als gehe es ihr gar nicht schlecht. Aber ich sehe eh nie all das, was sie beschreibt. Sie sitzt am Tisch, als wäre alles so normal wie es nur geht.
Auch das Badezimmer sah früher oft chaotischer aus als heute. Mit früher meine ich, als wir noch 3 Personen im Haushalt waren. Ja, das eine Regal ist etwas unordentlich, aber ansonsten - also bei mir ist mehr Staub. Die Katzen alle gesund und munter.
Die Lebensmüdigkeit steckt in dieser Wohnung nur in ihrer Besitzerin.
In diese vermeintliche Idylle - nichts anderes kann es sein- hinein sagt sie zu mir, als wir gemeinsam in der Küche rauchen (mein Bruder und V. sind Nichtraucher): "Ich hab da jetzt mal so drüber nachgedacht, und ich finde, wir sollten an Weihnachten mal über alles reden, was wir alle zusammen so erlebt haben."
KLONG. GONG. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, in mir ist aber eine fette Notiz gemacht.
Sie plaudert weiter. "Du hast ja echt die größten Kapriolen geschlagen. Auf den Kana*linsel*n damals, oder als ich bei dir in Lon*don war". An was sie sich alles erinnert, an so krasse Details, die ich selbst nur sehr schwer in meiner Erinnerung finde, und vermutlich überhaupt nicht mehr gefunden hätte, wenn sie sie nicht erwähnt hätte.
Es macht Angst. All das. Das Reden darüber, wie wir unser Weihnachten gestalten wollen. Ob wir wieder Fondue essen wollen. Was wir uns wünschen. Wann mein Bruder den Weihnachtsbaum besorgen soll. Und dann solche Sätze wie, wir sollten über alles reden was wir zusammen erlebt haben.
Der Arzt sagte zu uns heute Abend im Gespräch: "Wir werden nie wissen, ob und wann es passiert. Aber wir müssen jederzeit damit rechnen. Jedes mal, wenn eure Mutti aus der Tür geht, oder ihr bei ihr, kann es sein, dass es das letzte mal ist, dass wir sie gesehen haben." Das sind Kracher, ich weiß nicht wie ich erklären soll wie wahnsinnig die sind. Was sie auslösen. Was somit jede einzelne Sekunde mit ihr bedeutet. Und jede Sekunde ohne sie. Was ein Telefonanruf bedeutet. Oder wenn er ausbleibt.
Beim Essen sagt sie nochmal: "Es ist so schön, ich freue mich so sehr, dass du extra deswegen heute gekommen bist!"
Und ich fühle mich wie das größte, falscheste Arschloch auf dieser Welt. Denn ich weiß, dass ich nicht gekommen wäre, wenn der Arzttermin, von dem sie natürlich nichts weiß, nicht gewesen wäre. Ich schlucke hart, versuche an Gummistiefel oder irgendwas zu denken, und fühle mich so dermaßen wie eine Arschlochtochter, ich schäme mich in Grund und Boden.
Als wir gehen steht sie im Flur, in ihrer süßen dunkelgrünen Hose und ihrem warmen Fleecepulli. Sie sagt können wir das nicht öfters machen? Ich freue mich immer so sehr, wenn mal jemand vorbei kommt!
Es bricht mir das Herz, so etwas. Mein Gehirn versucht derweil krampfhaft zu erfassen, dass dieser Mensch der ist, der sein Leben nicht mehr leben will. Dass dieser Mensch die Hölle spürt, tagtäglich. Dass dieser Mensch, wenn man ihn mit nichts anderem beschäftigt, nur ein Thema kennt: Mi*nd Con*trol und Verschwörungstheorien. Und dass dieser Kampf so aussichtslos scheint. Wäre heute ein Richter, Polizist oder Notarzt gekommen, er hätte uns ausgelacht. Und wir hätten einen selten wunderschönen Abend mit unserer Mutter verschenkt.
Verstehen Sie irgendwas von dem? Ich nämlich nicht. Ich verstehe die Welt nicht. Ich kann es schlichtweg weder begreifen noch erfassen noch erspüren. Dass all meine Worte hier nicht im Ansatz das vermitteln, was ich empfinde, damit habe ich mich abgefunden. Aber inzwischen fehlen mir selbst die Gedanken und Gefühle um das ganze zu erfassen. "Das macht doch alles keinen Sinn."
Sylvester. Ich dachte immer, meine größte Angst ist, es allein verbringen zu müssen. Diese Angst wurde abgelöst.
Eines ihres Lieblingslieder, und auch eines meiner. Es erinnert mich sehr. Und ist sehr sie. Genau wie Lady Gaga. Ironischerweise.
Ich ... naja, das muss ich ja hier jetzt nicht sagen. Das weiß jeder, auch wenn ich es nicht sage. Nur ihr, ihr sage ich es sehr oft zur Zeit.
Würde ihr klar werden, dass er eine Ei*nweisung oder Betre*uung veranlasst hat, befürchten wir, dass sie ihn nicht mehr aufsuchen würde wegen eines krassen Vertrauensbruchs. Und das können wir uns nicht leisten. In keiner Hinsicht. Nicht mit einer derart stümperhaften The*rapeutin im Hintergrund.
Der Arzt verbringt unmengen an Zeit und Energie mit meiner Mutter und den Themen, mit denen sie ihn konfrontiert. Sucht mögliche Anlaufstellen, die Strahlung abschirmen könnten, versucht ihr zu helfen ohne ihr direkt einen Wahn zu unterstellen, aber auch ohne sie in ihren Gedanken zu bestätigen. Er sucht Lösungen für ihre Problematik.
Wir beschließen, mit seiner Empfehlung, sie beim heutigen Besuch, der nach dem Arztbesuch ansteht, nicht mit dem Thema zu konfrontieren, sondern einen möglichst schönen Abend zu verbringen. Er weist uns aber darauf hin, dass falls wir uns bis Sonntag, wo er uns in seiner Telefonsprechstunde erwartet, dazu entschließen die Betreuung doch durchzuziehen, wir vorher mit ihr darüber sprechen sollten. Andernfalls müssten wir doch auf eine entsprechende Situation warten, bei der eine Zwan*gseinweisung durchgeführt werden kann.
Mama, your flight was canceled. Or i guess it's just delayed.
Wie uns der Abend zeigen wird, hätte sie kein Polizist oder Notarzt dieser Welt heute mitgenommen. Niemals. Und wir überlegen uns, ob wir uns nicht einfach mal alle zusammensetzen um über das Thema zu sprechen, Arzt, Mama, Bruder, Papa, ich. Irgendwie müssen wir schauen, dass wir die Kurve kriegen für sie, ohne dabei das Vertrauensverhältnis zum Arzt zu zerstören.
Ich telefoniere mit Freunden. Gehts dir gut. Wie war das, als es einem gut ging? Ich will schon gar nicht mehr erzählen wie es mir wirklich geht, sonst glaubt noch jeder ich ertrink im Selbstmitleid.
Nach den Telefonaten bin ich noch einsamer als vorher. Stehe auf einer Insel, und irgendwie kommt kaum etwas von außen an mich ran. Außer Wasser. Einfach weiter funktionieren.