Donnerstag, 10. März 2022
Mein Gehirn weigert sich jeden Tag mehr zu begreifen was da passiert. Wenn man sich anhört, was die russische Propaganda so von sich gibt, bleibt einem wahlweise die Spucke weg oder man möchte nur noch im Strahl kotzen. Was soll bloss werden. Hatte die Stadt letzte Woche angeschrieben um meine Wohnung für den Zeitraum des Klinikaufenthalts an Geflüchtete zu vergeben. Bisher hat sich keiner gemeldet, und ich weiß auch gar nicht wie sinnvoll das ist, nachdem ich zu dem Thema inzwischen einiges bei ZON und Co gelesen habe, denn ich bin ja nicht da und kann mit nichts helfen. In der Klinik bin ich auch nicht erreichbar. Die Menschen bräuchten einen festen Ansprechpartner. Doch es beschämt mich, dass meine Wohnung leer steht in dieser Zeit, während andere nicht wissen wohin.

 
Auf den Website der Stadt, in der ich wohne, bittet die Verwaltung um Entschuldigung und um Verständnis, dass es aufgrund der vielen Hilfsangebote für ukrainische Flüchtlinge* per E-Mail etwas länger dauern kann, bis sie antworten. Vielleicht ist das in Ihrer Stadt auch der Fall?

Möglicherweise liegt Ihre Mail jetzt bei der zuständigen Stelle, die für die Unterbringung zuständig ist, und die greift erst einmal auf Angebote zurück, wo die Neuankömmlinge mittel- bis längerfristig wohnen können. Wie lange werden Sie denn in der Klinik bleiben?
Bei Privatunterkünften ist es sicherlich besser, wenn auch jemand als Ansprechpartner:in vor Ort ist.

* Ich verwende dieses Wort bewusst. Der Begriff "Geflüchtete" spiegelt vor, es handele sich dabei um eine abgeschlossene Handlung. Er reduziert es somit auf eine Äußerlichkeit, bloß weil die Betroffenen an einen Ort gelangt sind, der sicher ist oder zumindest zu sein scheint (man denke an die Millionen Binnenflüchtlinge weltweit).

Mütterlicherseits stamme ich übrigens aus einer Flüchtlingsfamilie. Meine Mutter besitzt sogar noch ihren Flüchtlingsausweis. Und an einer Schublade meines Nachttischs klebte bis vor ein paar Jahren unten noch ein alter Zettel, demzufolge dieses Möbelstück nur bei Vorlage eines Flüchtlingsausweises und Bezugsscheins ausgegeben werden dürfe. Das zweite Möbelstück, das meine Großeltern damit bekamen, war ein Bett. Es diente später meinen Eltern als Gästebett - und danach war es mehr als sieben Jahre lang meins.

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@arboretum: ja, vermutlich ist es so, dass es einfach viele Hilfsangebote gibt, zum Glück. Insofern alles okay. Ich fühle mich einfach so ohnmächtig und würde gerne irgendwas tun. In der Klinik werde ich 6 bis 8 Wochen bleiben. Es wäre also definitiv nur eine Übergangslösung. Leider ist meine Wohnung auch unglücklich geschnitten für etwas WG-ähnnliches bzw. um ein einzelnes Zimmer anzubieten.

Dein Hinweis zu "Geflüchtete" bzw. "Flüchtlinge" hat mich nachdenklich gemacht. Für mich war es seit 2015 negativ konnotiert, deswegen hatte ich immer bewusst "Geflüchtete" gesagt. Aber es stimmt natürlich, was du sagst. Es wird der Situation überhaupt nicht gerecht.

Danke für das Teilen deiner Geschichte :-) Wie schön, dass dich die Möbel weiter begleitet haben. Hast du selbst einen Bezug zum Herkunftsland deiner Mutter?

Väterlicherseits gibt es bei uns auch einen Migrationshintergrund, bzw. stammte meine Oma aus dem Riesengebirge. Sie bezeichnete sich nie als Flüchtling oder Geflüchtete, sie verwendete das Wort "Vertriebene" (sie, ihr Bruder und ihre Eltern, und eben viele andere). Mein Opa stammt auch aus Tschechien, aber das ist eine ganz andere und ominöse Geschichte. ;-) Kennengelernt haben sie sich erst in Hof, in den sogenannten Flüchtlingsbaracken.

Ich selbst habe keinen wirklichen Bezug zu Tschechien bzw. zu der Region, aus der sie kommt. Wir waren einmal gemeinsam mit ihr dort, das war toll, und aufregend, und irgendwie freue ich mich über diese Wurzeln, aber es ist nicht so, dass ich mich irgendwie besonders verbunden fühle. Wobei, wenn ich das so schreibe... ganz so ist es doch nicht. Hm. Es gibt einen Bezug, aber keinen sehr tiefen. Vielleicht so.

Ich kann nur im Ansatz erahnen, was Flucht für Menschen bedeutet, und hoffe inständig, dass ich es nicht noch viel früher als mir lieb ist am eigenen Leib erfahren muss.

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Vertriebene sind all die, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs zwangsausgesiedelt wurden. Meiner Urgroßmutter mütterlicherseits ist das passiert, sie lebte damals noch in Schlesien. Zwei ihrer Töchter - eine davon meine Großmutter - sind im Januar 1945 mit einem Teil ihrer Kinder aus Zoppot, wo die meine Großeltern schon vor Kriegsbeginn wohnten, geflüchtet, zum Glück doch nicht mit jenem Schiff.

Mit dem Bund der Vertriebenen oder der Landsmannschaft der Schlesier hatte aber keiner von ihnen etwas am Hut. Meine Großmutter war einmal von jemanden zu so einem Treffen mitgenommen worden. Sie erzählte mir: "Ich bin mit, weil ich dachte, ich könnte dort mal wieder Schlesisch sprechen, vielleicht sogar Leute aus der niederschlesischen Stadt treffen, in der ich geboren und aufgewachsen bin. Aber diese Reden die da geschwungen wurden - fürchterlich. Da wollte ich nie wieder hin."

Ich war mit der besten Freundin einmal für einen Tag in Breslau, dort hatte mein Berliner Großvater mütterlicherseits studiert und den älteren Bruder meiner Großmutter kennengelernt. Breslau ist schön, ich würde gerne nochmals dorthin. Und auch unbedingt nochmals nach Danzig. Ich war mit meiner Mutter im August 2013 für eine Übernachtung dort. Danzig ist wunderschön.*

2019 hatten wir drei Schwestern ihr zum Geburtstag eine Reise mit uns im Oktober geschenkt. Etwa zwei Wochen vorher erlitt sie ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, das sie nur durch glückliche Fügung überlebte. Seither ist sie nicht mehr so fit wie vorher und geht auch am Stock. Und die Pandemie machte solche Reisen eh unmöglich.

* Breslau und Danzig sind schwer zerstört worden. Polnische Restaurator:innen und die Polnischen Werkstätten für Denkmalpflege sind aus gutem Grund berühmt und die Fachleute weltweit gefragt. Wenn man bedenkt, dass sie diese und andere Städte trotz chronischer Materialknappheit im Sozialismus wieder aufgebaut und restauriert haben ...

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Eben las ich, dass die Bundesregierung mit dem Bundesvertriebenengesetz 1953 das Wort 'Vertriebene" als Sammelbegriff einführte "für alle,die ihre Heimat im Osten verlassen mussten, (.) aber die einst dort lebende angestammte Bevölkerung (Stichtag 31. Dezember 1937) als "Heimatvertriebene" bezeichnete. Das Wort "Flüchtlinge" wurde für die aus der Sowjetzone/DDR Geflüchteten reserviert."

Wusste ich gar nicht. Wenn in der Familie davon die Rede war, sprachen sie von sich als Flüchtlingen. Es jammerte aber keiner dem hinterher, was sie verloren hatten.

Wann ist man angekommen?
Flüchtlinge und Vertriebene im Nachkriegsdeutschland

Wie waren die Menschen in Hof so zu den Familien ihrer Eltern? Meine Großmutter flüchtete mit ihren drei älteren Kindern ebenfalls nach Bayern zu entfernten Verwandten, ein älteres, kinderloses Ehepaar. Sie waren sehr lieb, aber es gab in jener Stadt auch Leute, die sehr hässlich zu Flüchtlingen waren.

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Liebe Arboretum, bitte entschuldige, dass ich auf deine tollen, ausführlichen Kommentare und Links gar nicht mehr eingehe. Hier sind Pack- und Organisationswahnsinn und große Aufregung ausgebrochen. Doch das Thema interessiert mich sehr, und es inspiriert mich auch meine Tante, die im Juli mal nach Deutschland kommt, ausführlicher zu befragen. Mein Vater meinte, sie weiß noch viel mehr zu der ganzen Geschichte. Ein großes DANKE für deine Kommentare, ich will mich in den nächsten Monaten nochmal damit beschäftigen, auch mit den Link-Infos.

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Kein Problem, ich verstehe das (brauche ja selbst oft länger, bis ich Kommentare oder gar Mails beantworte).

Was mir noch eingefallen ist: Bei Nusskuchen merke ich die familiäre Herkunft, ich mag nur schlesischen Nusskuchen. Einem Kumpel von mir geht es genauso. Dessen Mutter ist Spätaussiedlerin aus Oberschlesien. Vor vielen Jahren lehnte er mal bei mir ein Stück Nusskuchen zunächst ab, er wisse mittlerweile, dass er nur den Nusskuchen seiner Mutter möge. Erst als ich ihm sagte, dass das ein schlesischer Nusskuchen sei und garantiert kein Krümel Mehl drin, nahm er eins und war begeistert. Er schmeckte so, wie er ihn kannte. Es war das erste Mal, dass er solchen Nusskuchen woanders als daheim serviert bekam.

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