Donnerstag, 17. Mai 2012
Sorrow and mistrust.
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag hatte unsere Oma ihr kurzes Leid dann überstanden, und somit kommt dem Geburtstag meines Bruders eine weitere Bedeutung zu. Das hat für mich etwas Tröstendes, vom Kommen und Gehen, von Geburt und Tod, vom Leben, "wie's halt nunamal is". Manchmal hat man so ein Gespür, und diesem bin ich nachgegangen und habe mich am Donnerstag Abend mit einer Kerze auf den Balkon gesetzt und mich leise von ihr verabschiedet.

Am Freitag sitze ich bei der 18-jährigen Cousine in der Küche, ihre Mama H. ist mit ihrer Schwester, meiner Patin die aus den Staaten angereist kam, bei Oma in der Wohnung. Es sind insgesamt 4 Geschwister, die zwei Frauen, mein Papa und noch ein Bruder.

Die engste Bindung hatte wohl H. zu ihrer Mutter, sie lebte Tag ein Tag aus im gleichen Mietshaus wie Oma, sie hat ihren Mann verloren, als jene Cousine 7 Jahre alt war, aber auch ohne diesen Verlust wäre meine Cousine von Oma mit großgezogen worden, allein schon durch die räumliche Nähe.

Die Cousine und ich reden erst über ihren Schulabschluss, ihre geplante Ausbildung und den Führerschein. Wir haben sonst nicht viel miteinander zu tun, sie facebooked eifrig und hat halt ihr Leben, einmal waren wir zusammen weg, aber wir haben wenig Berührungspunkte. Und doch fängt sie ganz frei und von Herzen an zu erzählen wie es war, als Oma gestorben ist, in dieser Nacht. Sie war dabei, und meine Oma ist in den Armen von H. gestorben.

Wie es war, das möchte ich hier nicht erzählen, aber es war heftig und hat nichts mit einem sanften Einschlafen zu tun. Aber wie sie mir das erzählt, in dieser Offenheit, Klarheit und Liebe, da sehe ich alles vor mir. Ich empfinde tiefe Bewunderung für sie. Noch nie habe ich einen Menschen sterben sehen, und ich weiß nicht, ob ich das, was sie gesehen hat, so ausgehalten hätte. Ich bin froh, dass sie den ganzen Prozess die letzten zwei Monate mitbekommen hat, dass sie Abschied nehmen konnte und so vielleicht auch leichter loslassen kann. Und ich bin ihr sehr dankbar, dass sie das mit mir geteilt hat auf diese ihr ganz eigene und offene Art.

Abends gehen mein Papa, seine Frau, meine Patin und der Bruder mit zur Grillfeier meines Bruders. Es klingt makaber für die einen, für meine Familie ist das normal und ich finde es schön, dass sie da sind, und wie sie trauern, sie lachen und weinen, und das alles ganz offen.

Mein Bruder erzählt mir von einem Traum, den er in der Todesnacht hatte. Es kommt ein Witz darin vor, den der Pfarrer tatsächlich in der Ostermesse erzählt hat, und Oma, und wir lachen, bis uns die Tränen kommen, und finden, der Witz hätte Oma gefallen, auch wenn sie im Traum nicht gelacht hat. Wir umarmen uns.

Gestern war das Requiem in Oma's Kirche mit dem Pfarrer, der den Witz erzählt hat. Er sieht aus wie Michael Mittermeier. Überhaupt schießen mir lauter merkwürdige Gedanken während dieser Messe durch den Kopf. Schräg vor mir sitzt mein Cousin, und bei "und führe uns nicht in Versuchung" frage ich mich, ob Oma jetzt weiß, was sonst keiner weiß und auch nie einer wissen soll. Ich bewunder das Organ von Oma's Bruder, der neben mir sitzt, seine klare Singstimme. Ich frage mich, was Papa denkt. Ich sehe, wie meine Patin vom Weinen völlig geschüttelt wird. Sehe, wie meine Cousine so krampft, dass ihre Schlüsselbeine rauskommen. Wir singen "Von guten Mächten wunderbar geborgen", und Oma's Lieblingslied, "Meerstern ich dich grüße".

Im Anschluss daran fand die Trauerfeier am Krematorium statt. Eigentlich wollte Mama auch kommen. Aber wir sehen sie nirgends. Wir gehen an Oma's Sarg vorbei. Ich habe meinen Papa lange nicht mehr so weinen sehen. Das letzte mal, als ich ca. 8 war. Es berührt mich unheimlich. Ich sehe durch die bunten Glasfenster der kleinen Kapelle, die Sonne lässt sie leuchten. Frage mich, was der Pfarrer wohl für ein Auto hat. Und ob Mama nicht gekommen ist, weil sie den direkten Anblick von Sarg und Tod nicht gepackt hätte, in ihrem permanenten Suizid-Gerede. Und ich frage mich, wie es mir gegangen wäre, wenn Mama neben dem Sarg gestanden hätte. Und mir wird klar, irgendwann sitze ich da als Tochter.

Und ich schwelge in Erinnerungen an Oma, daran, wie sie früher auf uns aufgepasst hat, wie wir immer Schwarzwaldklinik und Lindenstraße mit ihr geschaut hat. An typische Sätze von ihr. Daran, dass sie eines Abends, als sie auf uns aufpasste, meinte: "Heute ist der 6. Januar. Heilige drei Könige. Da muss man sich Stärke antrinken. Hier, ein Eierlikörchen für euch." Wir waren 7 Jahre alt. Ich denke daran, wie sie mich vor einigen Jahren fragte: "Des Ekstäsi, hast du des auch schon mal genommen? Wie ist das denn?". Ich erinner mich daran, wie wir jedes zweite Wochenende, an jedem Papa-Wochenende, also, bei ihr zum Braten und Klöße Essen waren. Und dass es bei ihr Limo gab. Und Butterbemme. Und Kabelfernsehen. Ich denke an unsere Reise 2006 in ihre alte Heimat, ins Riesengebirge. An all die Dinge, die sie mir gezeigt und erzählt hat. Dass sie Blähungen hatte und mir das vor dem Einschlafen angekündigt hat. Und dass sie im Hotel beim Kellner einen Sex on the Beach bestellt hat.

Meine Oma war eine von Grund auf offene, aufgeschlossene, irre neugierige und wunderbar herzliche Frau. Sie fehlt. An jeder Stelle. Sie hat unsere Familie zusammengehalten. Sie war unsere Sonne.

Die Trauerfeier des Pfarrers, ebenfalls der "witzige Katholike", ist toll. Er beschreibt Oma wie sie war, und erwähnt auch, dass sie schwer mit der Kirche gehadert hat, und nicht mit allem zufrieden war, was der Papst so gesagt und gemacht hat. "Wenn ich was zu sagen hätte, würde die Kirche heute anders aussehen." Wir lachen alle durch unsere Tränen. Und einer ihrer Söhne sagt laut: "So war se halt!" Aber ihr Glauben war unerschütterlich.

Im Anschluss gehen wir alle zu einem kleinen Leichenschmaus, und darauf in Oma's Wohnung. Es riecht nach Oma. Sie steckt in jedem Millimeter. Und ich bin sehr froh, dass ich die Familie habe, die ich nun mal habe. Ich nehme mir etwas mit, was mich immer an sie erinnern wird.

Oma hinterlässt 4 Kinder plus 1 Kind in einem anderen Teil Deutschlands, das durch einen Seitensprung meines Opas entstanden ist, das aber inzwischen mitsamit ihrer kompletten Familie völlig in die hiesige integriert ist. Sie waren auf den Familienfeiern immer eingeladen und meistens auch dabei.
Dazu kommen 9 Enkel plus 5 aus dem Seitensprung, und 3 Urenkel plus ein Ungeborenes aus dem Seitensprung.

Meine Familie ist mir heilig. Es gibt da eine Offenheit und ein Vertrauen, das unterschütterlich ist. Und allem voran Zusammenhalt. Ein afrikanischer Spruch sagt: "Wenn du einen Jungen erziehst, erschaffst du einen Mann. Wenn du ein Mädchen erziehst, erschaffst du ein Volk." An diesen Spruch habe ich die Tage oft gedacht, und an den tröstenden Schoß meiner Oma, die einfach immer da war.

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Heute Morgen ruft mich meine Patin an. Ich kann nicht rangehen und rufe abends auf der Heimfahrt zurück. Ob ich Oma's Bankkarte gesehen hätte. Nein, meine ich. Naja, weil ich ja auch in der Küche gewesen sei, und da wär die Karte gelegen, ob mir etwas aufgefallen sei. Nein, was ist los, frage ich. Jemand hat gestern Nachmittag 800 Euro von einem Geldautomaten mit der Karte abgehoben.

Ich bin sprachlos. Schwöre Stein und Bein, die Karte nie gesehen zu haben. Da muss doch jemand die Pin gewusst haben, sage ich. Nein, sagt die Patin, Oma war so dumm und hat die Pin mit der Karte aufgehoben, darüber hätten sie am Sonntag noch Witze gemacht. Aufgefallen ist es nur, weil sie die Karte nicht mehr gefunden haben, und sie sind dann heute im Lauf des Tages zur Sparkasse und haben sich eine Kontoaufstellung geben lassen. Da haben sie es gesehen.

"Weißt du", sagt die Patin, "scheiß auf das Geld, wenn das ein Fremder war, wir hoffen einfach nur, dass es niemand aus der Familie war." Sie zweifeln schon selbst an ihrem Verstand, ob sie die Karte irgendwann eingesteckt und dann verloren haben. Aber mein Gefühl sagt etwas saublödes, und als erstes kommt mir mein Cousin ins Gedächtnis, aber dass irgend jemand aus dieser Familie das echt durchzieht, das mag und kann ich einfach nicht glauben. Nein, echt nicht. Und wenn, dann hoffe ich, dass der- oder diejenige das einfach sagt. Es wäre sicher keiner böse, man würde fragen, warum, und was los ist, und ob man helfen kann. Aber ich bete, dass es keiner von uns war. "Verdächtig sind wir alle", sagt meine Patin. Sie haben es bei der Polizei angezeigt.

Ich habe Angst dass sie denken, ich war es, denn ich bin vor der kriminellen Uhrzeit gegangen, war noch bei Papa, hab da eine Stunde geschlafen und bin dann erst nach Nü*rnberg zurückgefahren. Zeugen habe ich nicht. Und ich erzählte noch allen, dass ich 700 Euro berappen müsste, wenn ich das Auto TÜV-zertifizieren will bevor ich es verkaufe. Aber ansich glaube ich nicht, dass irgend jemand irgend jemandem etwas unterstellt. Die Patin klang nicht so. Aber wir sind alle etwas aufgelöst und bauen nun auf die Video-Aufnahmen der Sparkasse. Tbc..

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Meine Cousine sagte, sie hätte Angst, dass wir alle uns nun nicht mehr so oft sehen, dass es auseinanderfällt. Da hat sie die größte Angst von uns allen ausgesprochen. Also sage ich ihr: "Das ist doch toll, wenn wir alle davor Angst haben. Denn dann liegt es nur an uns, dass das nicht passiert."

Du fehlst, Oma. Du und dein Lachen. Du und deine schlauen Sprüche. Deine Erzählungen vom Riesengebirge. Während der ganzen Trauerfeier dachte ich mir, Oma, du sitzt auf der falschen Seite. Du hinterlässt einen leeren Platz. Aber auf jeder Feier wirst du der Stuhl sein, auf den die Sonne scheint.

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